Das Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten – war’s das?

Mit seinem Urteil vom 9. November letzten Jahres beendete das Bundesverwaltungsgericht abrupt die Praxis Berlins und anderer Großstädte wie München und Hamburg, mit Hilfe des kommunalen Vorkaufsrechts die Bevölkerung in Milieuschutzgebieten vor Verdrängung zu schützen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel fällt damit ein weiteres Instrument von Ländern bzw. Kommunen zur Lösung wohnungs- und mietenpolitischer Probleme weg. Das Urteil hat erhebliche Auswirkungen für die Menschen in den 73 Milieuschutzgebieten Berlins, in denen ca. 30 % der Stadtbevölkerung leben.

Das Baugesetzbuch sieht unter anderem beim Kauf von Grundstücken, die in einem sozialen Erhaltungsgebiet („Milieuschutz“) liegen, ein Vorkaufsrecht für Städte und Gemeinden vor. Die in Berlin dafür zuständigen Bezirke haben ihr Vorkaufsrecht bisher in der Regel zugunsten einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft, von Genossenschaften oder Stiftungen ausgeübt, die dadurch zwischen 2015 und Ende 2020 weit über 2.000 Wohneinheiten erworben haben. Vorrangiges Ziel war es aber bislang, auf die Ausübung des Vorkaufsrechts zu verzichten und stattdessen mit den jeweiligen Käufer*innen der Grundstücke sogenannte Abwendungsvereinbarungen abzuschließen. Darin haben sich diese verpflichtet, Miet- nicht in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Auch auf die Errichtung von Aufzügen und den Anbau von Balkonen musste in der Regel verzichtet werden. Berlinweit konnten zwischen 2015 und Ende 2020 auf diese Weise, also durch den Abschluss von Abwendungsvereinbarungen, insgesamt mehr als 7.000 Mietwohnungen gesichert werden – eine deutlich höhere Zahl als diejenige der tatsächlich gekauften Wohnungen. Die Stadt München ging sogar noch einen Schritt weiter: Die Muster-Abwendungserklärung der Stadt umfasste bei freiwerdenden Wohnungen auch Höchstmieten und Belegungsrechte zu Gunsten förderberechtigter Mieter*innen. Auch waren danach Eigenbedarfskündigungen und die Vereinbarung von Staffelmietverträgen ausgeschlossen. Die Möglichkeiten zur Selbstnutzung der verkauften Wohnungen und zur Umlage der Kosten von Modernisierungen auf die Mietparteien waren ebenso eingeschränkt. 

In Berlin hat sich der Käufer eines im Milieuschutzgebiet Chamissoplatz gelegenen Grundstücks – ein Immobilienunternehmen – geweigert, eine solche Abwendungsvereinbarung zu unterschreiben. Als das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg daraufhin sein Vorkaufsrecht ausübte, ging das Unternehmen gerichtlich dagegen vor. Die Klage hatte in erster und zweiter Instanz keinen Erfolg. In ihren Begründungen bezogen sich die Gerichte auch auf die – trotz attraktiver Innenstadtlage – noch unterdurchschnittlichen Miethöhen in dem Gebäude, das deshalb unter Aufwertungsdruck stehe. Der Käufer werde als privatwirtschaftliches Unternehmen versuchen, einen möglichst hohen Gewinn zu erwirtschaften. Anhaltspunkte für in der Zukunft zu erwartende mieterhöhende Bau- und Modernisierungsmaßnahmen sowie die Umwandlung von Mietwohnungen in Wohneigentum erkannte es in dem hohen Kaufpreis für das Grundstück und in der Weigerung, eine Abwendungsvereinbarung zu unterzeichnen.Einer hierdurch begründeten Gefährdung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung könne nur durch Ausübung des Vorkaufsrechts wirksam begegnet werden. Dieser Argumentation hat sich das Bundesverwaltungsgericht nicht angeschlossen. Seiner Auffassung nach darf das Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten nicht allein deshalb ausgeübt werden, weil Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Käufer*innen in der Zukunft Maßnahmen durchführen werden, die zu einer Verdrängung von Mieter*innen führen. Vielmehr soll es, so das Bundesverwaltungsgericht, nach dem Gesetz allein darauf ankommen, ob das verkaufte Grundstück im Zeitpunkt der Ausübung des Vorkaufsrechts entgegen den Zielen einer Milieuschutzverordnung genutzt wird.

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit seinem Urteil nicht nur gegen die Meinung der Vorinstanzen gestellt, sondern auch gegen die Mehrheit der juristischen Fachwelt. Im Ergebnis entzieht seine Entscheidung der bisherigen Praxis der Großstädte die Grundlage. Als selbstständiges, flächendeckend eingesetztes Instrument zur Begegnung von Fehlentwicklungen auf einem Boden- und Wohnungsmarkt, der nicht in der Lage ist, die Bevölkerung hinreichend mit angemessenem und bezahlbarem Wohnraum zu versorgen, läuft das allgemeine Vorkaufsrecht in Zukunft ins Leere. Unmittelbare Auswirkungen hat das Urteil in zweierlei Hinsicht: Zum einen kann seitdem das Vorkaufsrecht bei Grundstücksverkäufen in sozialen Erhaltungsgebieten nicht mehr ausgeübt werden. Soweit Vorkaufsrechte noch nicht bestands- bzw. rechtskräftig ausgeübt worden sind, werden solche Bescheide der Berliner Bezirke keinen Bestand haben. Auch Abwendungsvereinbarungen zum Schutz der Mieter*innen werden derzeit nicht mehr unterzeichnet. Zum anderen beginnt für die Bewohner*innen der Häuser, über die in der Vergangenheit eine Abwendungsvereinbarung geschlossen wurde, eine Zeit der Unsicherheit. Gelten die darin festgelegten Pflichten der Käufer*innen weiterhin oder kündigen diese die Vereinbarungen mit den Bezirken unter Verweis auf die geänderte Rechtsprechung? Manche befürchten sogar, die Gerichte könnten die Vereinbarung als nichtig, also als von Anfang an unwirksam einstufen. An die darin geregelten Ge- und Verbote wären Eigentümer*innen dann nicht gebunden. Es ist zu erwarten, dass auch diese Fragen gerichtlich geklärt werden müssen.

Eine Rückkehr zur alten Praxis des kommunalen Vorkaufsrechts führt nur über eine Änderung des Baugesetzbuchs. Darauf weist sogar das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil ausdrücklich hin. In den Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition hat es das Vorkaufsrecht noch geschafft, wenn auch nur in Form eines Prüfauftrags. Der scheidende Berliner Senat hat umgehend reagiert und den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs in den Bundesrat eingebracht. Bei Ausübung des Vorkaufsrechts in Milieuschutzgebieten sollen die Kommunen in Zukunft wieder – wie vor dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts – die künftigen Absichten von Käufer*innen in den Blick nehmen, die die Ziele und Zwecke der sozialen Erhaltungssatzung gefährden. Das mit Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die Ampel-Koalition nach langen Jahren wieder eigenständige und SPD-geführte Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen hat sich ebenfalls sofort an die Arbeit gemacht. Bundesministerin Klara Geywitz und insbesondere auch die für das Thema zuständige Parlamentarische Staatssekretärin und Friedrichshain-Kreuzberger Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe haben einer Reform des Vorkaufsrechts höchste Priorität eingeräumt. Unterstützt werden sie dabei von den Bürgermeister*innen der drei größten Städte Deutschlands, Berlin, Hamburg und München, die in einer gemeinsamen Initiative eine Neuregelung fordern, um auf angespannten Wohnungsmärkten gewachsene Strukturen von Bewohner*innen effektiv vor Verdrängung zu schützen, bezahlbaren Mietwohnraum zu erhalten und Immobiliengeschäften mit spekulativer Absicht entgegenzuwirken. Mittlerweile liegt ein Referentenentwurf des Ministeriums vor, der sicherstellen soll, dass die Gemeinden wieder zu ihrer Praxis von vor dem Richterspruch aus Leipzig zurückkehren können, ohne dass im Einzelfall für die Mieter*innen nachteilige Nutzungsabsichten von Käufer*innen nachgewiesen werden müssten. Zudem soll die erstmalige Regelung der möglichen Inhalte und Geltungsdauer von Abwendungsvereinbarungen den Kommunen mehr Rechtssicherheit als bisher verschaffen.

Die nun vorgeschlagene Änderung des kommunalen Vorkaufsrechts ist aber nur ein erster Schritt. Eine grundlegende Reform des Baugesetzbuchs ist noch für diese Legislaturperiode angedacht. Dabei sollte das soziale Erhaltungsrecht nicht unter den Tisch fallen. Insbesondere haben die Gemeinden ein großes Interesse daran, ihr Vorkaufsrecht nicht länger zu den auf einem überhitzten Wohnungsmarkt abgerufenen Kaufpreisen auszuüben, um nicht selbst zum Motor der Preisentwicklung zu werden. Ebenso könnte die Praxis der Stadt München, über die geschlossenen Abwendungsvereinbarungen Mietobergrenzen in Milieuschutzgebieten festzulegen, als allgemeine Regelung Eingang in das Gesetz finden. So könnte etwa die Genehmigung von Modernisierungsmaßnahmen in Zukunft davon abhängig gemacht werden, dass die Mieten auch danach noch leistbar sind. All dies durchzusetzen wird, danach sieht es schon jetzt aus, ein langer und harter Kampf innerhalb der Koalition werden. Die FDP hat bereits grundlegende Einwände gegen den jetzt von der SPD vorgelegten Gesetzentwurf erhoben, dessen Blockade durch das Bundesjustizministerium nicht unwahrscheinlich ist. In diesem Fall läge es am Kanzleramt, das Thema zur Chefsache zu erklären. Ohne sichtbare Erfolge der Ampel-Koalition im Kampf gegen Wohnungsnot und explodierende Mieten – der neuen sozialen Frage, wie gerne und oft betont wird – dürfte der Ruf nach grundsätzlicheren, weitergehenden Lösungsvorschlägen wie einer Vergesellschaftung privater Wohnungsbestände oder einer Beschränkung des Zugangs zum Berliner Wohnungsmarkt für börsennotierte und ihre Gewinne in Steuerparadiese verschiebende Wohnungsunternehmen lauter werden.

Dr. Max Putzer, Sprecher des AK Stadtentwicklung und Wohnen der AsJ Berlin