Sozialdemokratische und rechtsstaatliche Antworten auf die Corona-Krise
COVID-19 hat vor allem die Länder der Bundesrepublik Deutschland zu Grundrechtseingriffen bewogen, die in ihrer Intensität und Reichweite einzigartig sind. Mit Blick auf diese lebensbedrohliche Erkrankung, über deren Ursachen, Verbreitung und Folgen noch immer wenig bekannt ist, sehen wir die Notwendigkeit zu drastischen Schritten. Zugleich sind wir tief besorgt über das Ausmaß der Beschränkung grundrechtlicher Freiheiten. Auch in der Krise müssen rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien strikte Beachtung finden. Die nachfolgenden Forderungen erheben wir in dem Bewusstsein dieser schwierigen Abwägung zwischen einer effektiven Bekämpfung des Virus einerseits und der Aufrechterhaltung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens andererseits:
- Die zur Bekämpfung des Virus ergriffenen Maßnahmen stützen sich auf überkommene Regelungen des Infektionsschutzgesetzes, die zu unscharf sind, um als Grundlage für derart intensive und das soziale, öffentliche und wirtschaftliche Leben generell einschränkende Grundrechtseingriffe zu dienen. Wir fordern die Schaffung eines modernen Infektionsschutzrechts, das die Voraussetzungen und Rechtsfolgen einzelner behördlicher Maßnahmen grundrechtskonform bestimmt. Das Infektionsschutzgesetz bietet zudem mit seiner bisherigen Entschädigungslogik nach dem Motto, wer hat, dem wird gegeben, keine Grundlage für eine gerechte Lastenteilung der Folgen der Pandemie, diese muss politisch diskutiert und vom Gesetzgeber geregelt werden. Der Ausgleich der wirtschaftlichen und sozialen Folgen staatlicher Eingriffe muss solidarischer und gerechter organisiert werden. Dabei sind auch gewährte Zuschüsse und große Vermögen zu berücksichtigen und heranzuziehen.
- Die Maßnahmen sind als Allgemeinverfügungen und – zum Teil binnen weniger Stunden erarbeiteter – Rechtsverordnungen der Exekutive ergangen. Wir erkennen ausdrücklich an, dass die Exekutive unter großem Druck sehr schwierige Entscheidungen treffen muss und dafür Sorge trägt, die Ausbreitung des Virus zu begrenzen und die Folgen der Einschränkungen auszugleichen. Es ist aber auf Dauer nicht hinnehmbar, dass derart tiefgreifende und flächendeckende Grundrechtseingriffe allein in – oder zwischen – den Regierungen und ohne öffentliche Debatte oder direkte Opposition verhandelt werden. Sie müssten von den Parlamenten öffentlich diskutiert werden. Einschränkungen und Selbstbeschränkungen parlamentarischer Rechte lehnen wir strikt ab.
- Die zur Bekämpfung von COVID 19 beschlossenen Maßnahmen müssen in Abwägung von Grundrechten auf der Basis wissenschaftlich validierter Erkenntnisse verhältnismäßig sein. Nicht die Lockerungen, sondern die Aufrechterhaltung von Grundrechtseinschränkungen bedarf der Rechtfertigung. Eine Abwägung der widerstreitenden Rechte und Interessen fällt schwer, da die Erkenntnisse über das neuartige Virus begrenzt sind und sich seine Ausbreitung dynamisch entwickelt. Umso mehr bedarf es einer klaren Festlegung des legitimen Zwecks und einer strikten Zweckbindung der erforderlichen Maßnahmen. Die der Bevölkerung auferlegten Beschränkungen müssen deshalb transparent, nachvollziehbar erklärt, zeitlich eng befristet und fortwährend im Hinblick auf ihre Erforderlichkeit evaluiert werden. Dies gilt vor allem für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die für unsere demokratische Willensbildung schlechthin konstituierend sind.
- Rechtswidrig werden die ergriffenen Maßnahmen spätestens dort, wo der Menschenwürdekern und der Wesensgehalt der Grundrechte betroffen sind. Eine vollständige Isolation Einzelner darf es nicht geben. Auch Alleinlebende haben das Recht auf Kontakt zu zumindest einer anderen Person. Eine solidarische Gesellschaft bemisst den Wert eines Menschen nicht nach dem Alter, den Vorerkrankungen oder der weiteren Lebenserwartung. Eine Begleitung Schwerstkranker oder Sterbender muss stets gewährleistet sein. Die Behörden und Einrichtungen haben für diese Personen ggf. – ihren grundrechtlichen Schutzpflichten nachkommend – für geeignete Schutzausrüstungen zu sorgen.
- Die schrittweise Lockerung der Grundrechtseingriffe hat unter strikter Wahrung des allgemeinen Gleichbehandlungsgebots zu geschehen. Gesellschaftliche oder wirtschaftliche Macht allein dürfen nicht maßgeblich sein; „Systemrelevanz“ bemisst sich nicht nach der Wirkmacht der jeweiligen politischen Lobby, sondern nach der Grundrechtsrelevanz und der Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben. Die unberechtigte Bevorzugung einer Sportart der Bundesliegen, die nur mit engem Körperkontakt möglich ist, lehnen wir deshalb ab, solange andere berufliche oder sportliche Tätigkeiten einem Kontaktverbot unterliegen. Eine pauschale und langfristige Schließung von bestimmten Kulturbereichen (Kino, Theater, Oper, Konzerthause u.ä.) ist nicht zu rechtfertigen.
- Die Lebenswirklichkeit und Perspektiven von Familien, Eltern und Kindern müssen in der Krise hinreichend Berücksichtigung finden. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich eine Ausweitung der Notbetreuung vor allem für berufstätige Alleinerziehende oder Eltern in systemrelevanten Berufen, die zwingend erforderlich ist, wenn Tageseinrichtungen weiterhin geschlossen bleiben. Arbeit im Home-Office kann die Situation erleichtern, die gleichzeitige Betreuung oder Beschulung von Kindern lässt sich für viele nicht miteinander vereinbaren. Kinder brauchen für ihre Entwicklung auch soziale Kontakte zu anderen Kindern. Eine schrittweise Öffnung von Betreuungseinrichtungen und Schulen braucht kreative Lösungen, die das Verbreitungsrisiko und den notwendigen sozialen Kontakt in ein ausgewogenes Verhältnis bringt. Damit sich Unterschiede zwischen Frauen und Männern bei der Erwerbs- und Sorgearbeit in der Krise nicht weiter verschärfen, fordern wir die Einführung eines bedarfsgerechten Corona-Elterngelds für Familien, für dessen Auszahlung Voraussetzung ist, dass beide Elternteile ihre Arbeitszeit reduzieren. Der Schutz besonders vulnerabler Personen (z.B. obdachlose Menschen oder Opfer von häuslicher Gewalt) muss sichergestellt werden.
- Eine Ahndung von Verstößen gegen die Eindämmungsverordnungen sollte insbesondere dort mit Augenmaß erfolgen, wo es um die Ausübung kommunikativer Grundrechte geht, da sonst zu befürchten ist, dass die große Akzeptanz der Bevölkerung für die notwendigen Einschränkungen ihrer Freiheiten schwindet.
- Die zum Beispiel von Berlin beschlossene unbürokratische Soforthilfe zur Unterstützung von Solo-Selbstständigen, Freiberuflern und Unternehmen wird ausdrücklich begrüßt. Da eine umfassende Bedürftigkeitsprüfung im Antragsverfahren unterblieben ist, um schnell Hilfe leisten zu können, sind Fälle von Leistungsmissbrauch im Nachhinein konsequent strafrechtlich zu verfolgen.